Libido- und Orgasmusstörungen scheinen in unserer Zeit keine Seltenheit zu sein. Im folgenden Beitrag geht es um den Libidoverlust beim Mann und das gestörte Orgasmus-Erleben der Frau. Volker van den Boom beantwortet die entsprechenden Fragen und bringt dabei seine langjährigen Erfahrungen aus seiner Praxis für Sexual- und Partnerschaftsberatung ein.
In den letzten Jahren habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, bereits im Anamnesegespräch Themen wie Partnerschafts - oder Eheprobleme abzufragen und anzusprechen. Hierbei mache ich eine interessante Feststellung, die mich im Lauf der Zeit immer mehr verwundert: Immer häufiger höre ich von Männern Ende 20 die Klage, dass sie an ihrer Sexualität völlig das Interesse verloren hätten. Besonders bemerkenswert scheint mir, dass sich ihre Lustlosigkeit nicht nur auf die eigene Partnerin bezieht, sondern generalisiert auftritt und sich sogar auf das Thema Selbstbefriedigung bezieht. Mich würde sehr interessieren, ob Sie als Sexualtherapeut einen solchen Trend ebenfalls beobachtet haben und welches Erklärungsmodell Sie hierfür haben. Welche Rolle ordnen Sie Umweltgiften, Konservierungsstoffen usw. hierbei zu? Welche psychosozialen und gesellschaftlichen Faktoren halten Sie für ausschlaggebend? Ist es vielleicht so, dass diese jungen Männer sich nicht mehr auf tiefe Partnerschaften einlassen wollen und somit - unbewusst - auch die sexuelle Nähe abwehren?
Antwort
Ich muss Ihre Beobachtung leider bestätigen: War es bis vor fünf Jahren noch eine Seltenheit, wenn ein Mann keine Lust auf Sexualität mehr hatte, so kann ich seitdem eine deutliche Trendänderung feststellen. Immer mehr Männer Anfang 30 klagen über starken und anhaltenden Libidoverlust. Und diese Lustlosigkeit bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Partnerin, nein, sie umfasst den gesamten Bereich der Sexualität. Da dieser Trend bundesweit zu beobachten ist, gab es natürlich schnell auch Erklärungsversuche derart, dass dies eine erste Reaktion auf die erstarkten, emanzipierten Frauen sei - d.h. dass die Männer vor der Kraft ihrer Frauen zurückweichen, nachgeben und die fehlende eigene Dominanz zu einem Selbstwertverlust und somit zu einer Libidoreduzierung führt. Insofern war ich gespannt, was die betroffenen Männer selbst mir über die Hintergründe ihres Problems erzählen würden. Zwei Erklärungen kristallisierten sich im Lauf der Zeit dabei heraus, die sich seitdem immer wieder bestätigen lassen.
Die falsche Partnerin?
Etwa 20% der betroffenen Männer mussten im Beratungsgespräch feststellen und sich selber auch eingestehen, dass sie eigentlich die falsche Frau zur Partnerin genommen hatten. Ungewollte Schwangerschaften, Angst vor dem Alleinsein und/oder Druck aus der Verwandtschaft hatten sie vor Jahren zu dem voreiligen Schritt veranlasst, die damalige Freundin zur Frau zu nehmen und zu heiraten. Bald (spätestens nach den ersten Kindern) mussten sie jedoch feststellen: „Eigentlich liebe ich diese Frau nicht!“ Die Männer strengen sich dann in aller Regel an - der Frau, den Kindern, dem Eigentum und den schönen Erlebnissen zuliebe - diese Partnerschaft fortzuführen. Oft machen sie sich auch etwas vor, indem sie sagen: „Das ist Liebe.“ Ihre Emotionen lassen sich jedoch nicht betrügen und reagieren mit Rückzug. Entsprechend verhält es sich auch mit der Lust auf Körperkontakt und Sexualität - sie verschwindet. Sexualberatung mit diesen Männern ist natürlich in erster Linie Lebensberatung: Wollen sie diese Ehe fortführen? Kann - in gemeinsamer Anstrengung beider Partner - aus dieser Partnerschaft vielleicht doch noch eine Liebesbeziehung werden? Die Erfahrungen lassen da jedoch kaum Hoffnungen zu. Mehrheitlich trennen sich die Männer von ihren Frauen. In Beziehungen mit anderen Frauen können sie dann die Erfahrung machen, dass ihre Lust durchaus nicht abgestorben ist, sondern plötzlich wieder aufflammt.
Beruflicher Stress?
Bei 80% der mit Lustlosigkeit geschlagenen Männer sind die Hintergründe für ihre Lustlosigkeit jedoch eindeutig in starken, existenziellen Ängsten im beruflichen Umfeld zu suchen. Auf meine Frage, wann der Libidoverlust begann, berichten sie einheitlich von Situationen wie angedrohter Kündigung im Betrieb, erhöhtem Druck durch den Chef aufgrund aktueller Wirtschaftslage, Konkurs- und Insolvenzanmeldungen sowie Arbeitsplatzverluste mit befürchteter längerer Arbeitslosigkeit. Verständlich, dass in solchen existenziellen Krisen der „Spaß an der Freud“ als erstes verloren geht. Schwierig ist das für die Sexualberatung, weil unabänderliche wirtschaftliche Faktoren eine große Rolle spielen. Insofern wird es in der therapeutischen Arbeit in erster Linie darum gehen, den betroffenen Mann innerhalb der vorgefundenen Rahmenbedingungen zu stabilisieren: Förderung des Zusammenhaltes in Partnerschaft und Familie, Rückhalt suchen im Freundes- und Kollegenkreis, aktives Eingreifen in die innerbetrieblichen Vorgänge, Suche nach beruflichen Alternativen bzw. Beschäftigungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Leerlaufzeiten. Diese sicherlich begrenzten Möglichkeiten stärken den betroffenen Mann. Bewusst verlässt er die „Opferrolle“ - soweit möglich - und entscheidet sich für die Position des Handelns. Sexuelle Lust wird in dieser Zeit punktuell oder phasenweise wieder aufflackern, jedoch schnell auch wieder verschwinden können. Dies als natürliche Reaktion auf die existenzielle Krise zu akzeptieren ist eine sicherlich nicht einfache Aufgabe für den betroffenen Mann und seine Partnerin.
Frage eines Gynäkologen
In meiner Praxis sehe ich mich immer wieder mit dem Problem orgasmusgestörter Frauen konfrontiert. Ein Beispiel: Eine junge, durchaus attraktive Frau (32 Jahre) berichtete mir, sie habe noch nie einen Orgasmus erlebt. Sie habe zwar sehr häufig Lust auf Sexualität, sei auch im intimen Beisammensein sehr erregt, könne aber niemals bis zum Höhepunkt gelangen. Sie benötige dann in aller Regel mindestens eine Stunde, bis die Erregung wieder abflaue, wobei sie während dieser Zeit auch unter körperlichen Schmerzen leide. Bei der Selbstbefriedigung habe sie diese Schwierigkeiten nicht; hierbei gelange sie nach kurzer Zeit zum Orgasmus. Nachdem ich sie nach ihrer partnerschaftlichen Situation befragt hatte, ergab sich folgendes Bild: Sie ist seit drei Jahren verheiratet, hatte das Problem aber auch bereits in einer vorhergehenden langjährigen Beziehung gehabt. Damals habe ihr Partner sie deshalb verlassen. Nun befürchtet sie, dass ihr das Gleiche wieder passieren könne. Sie liebe ihren Mann und wolle eine solche Situation auf keinen Fall noch einmal erleben. Wie gehen Sie in einem solchen Fall vor und was kann man als Hintergründe für solche Problematiken ansehen?
Antwort
Wenn die Möglichkeit einer organischen Seite von Orgasmusproblemen hinreichend ausgeschlossen worden ist, sind die Orgasmusprobleme nur vor dem Hintergrund einer Kindheit zu verstehen, in der die Frau als Kind umfassend und lang anhaltend in ihrer seelischen und körperlichen Identität von den Eltern missachtet worden ist. Hier finden wir in aller Regel einen Vater, der weitab von jeder Gerechtigkeit seine Familie tyrannisiert und häufig auch misshandelt. Wie ein Despot kann er neben sich keine eigenständige Identität dulden und ist daher bemüht, seine heranwachsende Tochter zu demütigen und zu erniedrigen. Eine schwache Frau steht ihm zur Seite, die den Kindern als Mutter keinen Schutz bieten kann oder will. Tiefe seelische und körperliche Blockaden sind die Folge, die es der Frau schwer machen, sich ihren Emotionen und Erregungen einfach hinzugeben. Solche Erregungsblockaden (wie hier die Orgasmusstörung) lassen sich aufheben, indem die Frau beginnt, sich eine neue, eigene und frei gewählte Identität als Frau aufzubauen. Erst dann wird sie ihre Gefühle frei und genussvoll erleben können. Dies setzt voraus, dass sie unter therapeutischer Anleitung die Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem realen oder imaginierten Vater (im Rollenspiel) sucht. Hier wird sie lernen, sich gegenüber seiner damaligen und heutigen negativen Beeinflussung abzugrenzen. Die dabei freiwerdenden Emotionen schaffen eine Durchlässigkeit bis hin in den körperlichen Bereich. Parallel wird sie sich mit ihrem Körperselbstbild auseinandersetzen: Mit Hilfe von Übungen und Hausaufgaben wird sie angeleitet, sich ihrer weiblichen Identität anzunähern. Beide Prozesse führen mittelfristig dazu, dass die geschilderten seelischen und körperlichen Erregungsblockaden sich auflösen und sie somit orgasmusfähig wird. In dem von Ihnen geschilderten Fall empfehle ich Ihnen daher, Ihrer Patientin die Notwendigkeit einer Sexualtherapie aufzuzeigen und die entsprechenden Schritte einzuleiten.
Volker van den Boom, Aachen
Dieser Text wurde erstmals in der Fachzeitschrift Der Hausarzt veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung www.medkomm.de